Yastayız – Davacıyız – Taleplerimiz var

Der Künstler Ulf Aminde und das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ beschäftigen sich mit dem Un-Sichtbarmachen rassistischer Gewalt.
 

Entwurf für das NSU Denkmal

2016 veranstaltete die Stadt Köln einen künstlerischen Wettbewerb für ein Mahnmal in der Kölner Keupstraße, das an das Nagelbomben-Attentat des  NSU am 9. Juni 2004 erinnern soll. Der im November des gleichen Jahres ausgewählte Entwurf des Berliner Künstlers Ulf Aminde basiert auf seinen Gesprächen mit den Anwohner*innen und Initiativen in Köln und verbindet die Idee eines Mahnmals mit einem Ort der Begegnung, einen Gedenk- mit einem Lernort.

Herkesin Meydanı – Platz für Alle

Doch die Realisierung des Mahnmals am geplanten Standort Keupstraße/ Schanzenstraße kommt schon seit vier Jahren nicht voran. Die vorliegenden stadtpolitischen Beschlüsse konnten bis heute nicht durchgesetzt werden. Eine Investor*innengruppe rund um die Brainpool TV GmbH kaufte das Areal: sie wollte dort, wo das Mahnmal entstehen soll, ein lukratives Gewerbequartier errichten und das Projekt an einen alternativen, entfernten Standort verdrängen. Die Initiativen und Gruppen „Herkesin Meydanı — Platz für alle“,  IG Keupstraße, „Keupstraße ist überall“ und das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ arbeiten seitdem, genau wie der Künstler selbst, vehement für die Errichtung am geplanten Standort und erheben ihre Stimmen gegen eine erneute Verdrängung der Opfer-Perspektive. Der Standort an der Ecke Keupstraße/Schanzenstraße, in Sichtweite zum Anschlagsort, als sichtbarer Lern- und Gedenkort und öffentlicher  Versammlungsplatz an der zunehmend kommerzialisierten Schanzenstraße ist zentraler Teil des Mahnmal-Konzepts. Zuletzt machte eine zum Jahrestag des Anschlags im Juni 2020 formulierte Zusicherung der Kölner Oberbürgermeisterin Hoffnung, dass die Stadt das Grundstück kaufen und mit der Umsetzung des Mahnmals endlich begonnen werden könnte. Mitte August 2020 wurde allerdings öffentlich, dass das Areal erneut an einen Investor verkauft wurde. Der Kölner Stadtexpress berichtet am 15.08.2020, dass der neue Besitzer das Mahnmal an der Schanzenstraße realisieren wolle, allerdings wieder nicht am vorgesehenen Platz. Die Forderungen der Initiativen haben bis heute ihre Aktualität nicht verloren.

Das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ und Ulf Aminde haben für die Ausstellung „GLOBAL POSITIONING SYSTEM NOT WORKING“ in der Akademie der Künste der Welt in Köln einen Ausstellungsraum gestaltet, der sich am Beispiel der Kölner Keupstraße mit dem Un-Sichtbarmachen rassistischer Gewalt und dem Wieder-Sichtbarmachen durch solidarische Netzwerke beschäftigt. Der Raum und die in deutsch, englisch und türkisch publizierten Texte des Tribunals stehen unter den Titeln: Klagen – Anklagen – Einklagen +++ Grieve – Indict – Demand +++ Yastayız – Davacıyız – Taleplerimiz var

Einleitung

Rassistischer Terror zielt auf die Auslöschung von Körpern. Der Apparat des Rassismus kennt aber auch subtilere Formen des Verschwindenlassens. Der Terror des NSU hätte nicht funktioniert ohne das Schöpfen aus einem rassistischen Wissensrepertoire der deutschen Gesellschaft: Medial reproduzierte Stereotype. Tradierter Alltagsrassismus. Kollusion zwischen staatlichen und neonazistischen Strukturen. Fehlende Empathie. Die Unmöglichkeit, über Rassismus als Gesellschaft formierende Struktur und Praktiken zu sprechen.
Der Angriff des NSU galt der gesamten postmigrantischen Gesellschaft. Doch haben wir es alle als Angriff auf uns verstanden? Das Tribunal ‚NSU-Komplex auflösen‘ ist ein bundesweiter Zusammenschluss, der versucht, die Perspektiven von Betroffenen rassistischer Gewalt sichtbar zu machen. Auf das Silencing der Opfer durch Ermittlungsbehörden, Staat und Medien reagieren wir mit einem Lauter-Drehen dieser Stimmen. Ein Tribunal ist ein zivilgesellschaftlicher Versuch der Durchsetzung fundamentaler Werte, die in einem Staat in einer bestimmten historischen Konstellation spezifischen Gruppen verwehrt bleiben. Es ist der Versuch, ein Stück Gerechtigkeit zu erkämpfen und marginalisierte Stimmen wieder hörbar zu machen. Wie das Global Positioning System (GPS) theoretisch drei Satelliten zur Standortbestimmung benötigt, so hat das Tribunal ein Raster erarbeitet, das ebenfalls einen Dreiklang bildet. Dieser Dreiklang hat uns geleitet:
Klagen – Das Klagen um die, die uns genommen wurden.
Anklagen – Das klare Benennen von Strukturen und Personen, die Verantwortung dafür tragen.
Einklagen – Das Bekenntnis zu einer postmigrantischen Gesellschaft, die die Vision einer besseren Gesellschaft in sich birgt.
In der Praxis benötigt das GPS einen vierten Satelliten zur Standortbestimmung. Auf das vierte Element eines Tribunals, das Urteil, haben wir verzichtet. Ein Urteil besitzt die Macht etwas zu beschließen. Wir wollen aber erst die Menschen empowern und damit eine Diskussion in der Gesellschaft eröffnen. Aus den Perspektiven der Betroffenen: Sprechen wir über Rassismus.

Silencing oder: „Die Bombe nach der Bombe“

Eine Bombe auf einem Fahrrad montiert. Versetzt mit 700 großen Zimmermannsnägeln. Abgestellt vor dem Friseursalon von Öczan Yıldırım, 29 Jahre alt. An einem sonnigen Nachmittag, kurz nach Schulschluss, trifft es die Keupstraße, eine belebte Geschäftsstraße, mitten in Köln. Mitten in den Vorbereitungen auf einen Festtag. Im Salon von Öczan Yıldırım befinden sich mehrere Kunden. Der Gaslieferant, der sonst immer zu dieser Zeit kommt, ist an dem Tag nicht gekommen. Ein Zufall, der vermutlich Leben rettet. Die Bombe wird ferngezündet. Gedacht um massenhaft zu töten. 22 Menschen werden zum Teil schwer verletzt, die glühenden Nägel fliegen hunderte Meter weit, bohren sich in Hauswände, Autos, menschliche Körper.

In einer Kette von unabhängigen Akten beginnt das rassistische Motiv hinter der Tat sofort unsichtbar zu werden: Das LKA, das zunächst von einem möglichen Terroranschlag ausgegangen war, ändert diese Einschätzung bereits nach 30 Minuten auf Anweisung des Lagezentrums des NRW-Innenmimisteriums ab und erklärt: „Bisher liegen keine Hinweise auf terroristische Gewaltkriminalität vor.“ Der Bundesinnenminister Otto Schily vermutet 24 Stunden nach der Tat ein „kriminelles Milieu“ am Werk und schließt einen terroristischen Hintergrund aus. Ein Polizist erwidert, als ein Betroffener ihn auf den augenscheinlich rassistischen Tathintergrund hinweist: „Psst, das will ich nie wieder von dir hören.“

Die Ermittlungen richten sich von nun an allein gegen die Bewohner*innen der Keupstraße. Opfer werden zu Tätern gemacht. Bespitzelt vom „Verfassungsschutz“. Hausdurchsuchungen, stundenlange Befragungen. Falsche Vorhaltungen sollen verunsichern. Immer wieder und wieder. Sieben Jahre. Sieben lange Jahre.

Die Medien phantasieren ohne jegliche Belege von einem Racheakt, schreiben von PKK, Mafia, Türsteher-Szene, Schutzgelderpressung, Rotlicht – das Motiv von der Keupstraße als Parallelgesellschaft wird fortgeschrieben. Der Druck wirkt. Er wirkt sich aus auf die Betroffenen. Haben sie der Polizei doch alles erzählt, was sie wussten. Haben immer wieder auf ein möglicherweise rassistisches Motiv hingewiesen. Die Beamten wollen es nicht hören. Die Betroffenen verstummen zunehmend. Die Polizei reagiert mit erneuter Stigmatisierung: In der Keupstraße träfen sie auf eine „Mauer des Schweigens“, wird fleißig in den Medien kolportiert. „Wenn ihr nicht redet, seid ihr schuldig. Nennt endlich die Namen“, drohen die Ermittler*innen den Betroffenen. Der Druck sät Zweifel selbst in die Reihen der Opfer: „Kann es jemand von uns gewesen sein?“

Die Ermittlungen laufen weiter: gegen die Opfer des Anschlags, nicht gegen die Täter*innen. Die Morde des NSU gehen weiter, unbehelligt. Am 4. November 2011 enttarnt sich der NSU selbst, bekennt sich zu dem Anschlag in der Keupstraße. „An dem Tag fühlte ich mich wie ein freier Vogel, denn wir konnten diesen Druck von der Polizei nicht mehr ertragen.“ (Hasan Yıldırım)
 

Chimäre oder: „Ich hol’ die gute alte Zeit zurück.“

In dem Bekennervideo des NSU zündet die Zeichentrickfigur Paulchen Panther die Bombe auf der Keupstraße während der Sprecher sagt: „Paul beschließt in diesem Augenblick: Ich hol’ die gute alte Zeit zurück.“ Die „gute alte Zeit“, die der NSU herbeibomben will, ist ein imaginierter Raum und eine mythologisierte Zeit. Eine Zeit, als die innerstädtischen Geschäfte noch nicht migrantisch geprägt waren, in der die „Anderen“ noch an ihrem Platz waren, in der Fabrik, unter Tage, in den Wohnbaracken, in den Arbeitslagern. Das Phantasma einer homogenen weißen, deutschen Gemeinschaft, wie es sie nie gegeben hat. Jahrhundertelange Prägung durch Migration wird ignoriert von einem rassistischen Trugbild. Jedes zweite Kind in den Großstädten Almanyas hat mittlerweile einen „Migrationshintergrund“, wie es im Bürokratendeutsch heißt. Diese Realität ist sichtbar in der Keupstraße. Gegen diese Sichtbarkeit der „Gesellschaft der Vielen“ wendet sich der rassistische Terror. Der NSU greift nicht die Marginalisiertesten der Gesellschaft an, sondern Kleinunternehmer. Sie haben sich eine eigene ökonomische Existenz aufgebaut, prägen das Stadtbild mit ihren Schlüsselläden, Schneidereien, Blumengeschäften und gastronomischen Angeboten. Die Gewalt des NSU-Komplex richtet sich gegen diese Emanzipation.
In den 1950er und 60er Jahren kamen Migrant*innen nach Köln, um zumeist in der Industrie zu arbeiten, so auch im Carlswerk in Köln-Mülheim. Mit der eintretenden Rezession in den 1970er Jahren werden die sogenannten Gastarbeiter*innen zu zehntausenden aus der Fabrik gefeuert. Sie sollen schleunigst das Land verlassen, doch sie bleiben und bringen mit ihren eigenen Ökonomien die Innenstädte dieses Landes wieder zum Blühen. Auch die Keupstraße, die von ihren alteingesessenen Bewohner*innen und Ladeninhaber*innen verlassen worden ist, bauen sie zu einer lebendigen Geschäftsstraße auf, sorgen für eine neue Infrastruktur und bringen Lebensqualität in das Viertel.
Im Laufe der Jahre wird die Keupstraße auch zu einer Inszenierung des Orients, mitunter türkischer als die Türkei selbst. Auf kleinstem Raum bilden opulente Brautkleider, mehrstöckige Hochzeitstorten, verschnörkeltes Dekor, anatolische Musik und der Duft des Essens nicht nur Assoziationslinien zu der verlassenen Heimat der ersten Generation. Diese Aneignung ist auch eine transkulturelle Praxis, eine „praktische Geschäftsstrategie, als ein strategisches Zugeständnis an die lokalen, hier die deutschen Vorstellungen vom ‚Orient‘.“ (Erol Yildiz)

Die Keupstraße gilt schließlich weit über die Grenzen Kölns hinaus als Symbol selbstbewussten migrantischen Lebens in Deutschland. Eine Straße, so heterogen wie der Rest der Gesellschaft. Der öffentliche Diskurs ist jedoch von rassistischen Stereotypen durchdrungen. Immer wieder wird die Keupstraße als „Ghetto“, ab Ende der 1990er Jahre als Paradebeispiel für eine „Parallelgesellschaft“ diffamiert. Für die Täter*innen der „Generation Rostock“, aus der sich der NSU rekrutierte, stellte die Keupstraße ein Symbol dar, das ihre Vorstellung einer rassialisierten Gesellschaftshierarchie bedrohte. Vermutlich wurde sie daher als Angriffsziel ausgewählt.

 


Breaking the Silence oder: „Keupstraße ist überall“

Es war ihr migrantisch situiertes Wissen, also ein spezifisches Erfahrungswissen über das Leben in Deutschland mit den Erfahrungen von alltäglichen und strukturellen Rassismus, das die Betroffenen dazu brachte, immer wieder auf ein rassistisches Motiv der NSU-Taten hinzuweisen. An allen Tatorten. Dieses Wissen wurde mit kulturalistischen Deutungen überdeckt und mit rassistischen Stereotypen diffamiert – die die Opfer zum Schweigen brachten. Nach der Selbstenttarnung des NSU verblieben die Betroffenen nicht in der ihnen nun zuerkannten Opferrolle. Sie verbündeten sich mit schon in den 1980er und 1990er Jahren von rassistischer Gewalt Betroffenen und begannen, auf die Kontinuität des Rassismus in Deutschland hinzuweisen. Sie gingen in die Offensive. Sie gründeten mit Antirassist*innen die Initiative „Keupstraße ist überall“ und klagten das Nicht-hören-wollen der Gesellschaft an, die Empathielosigkeit der meisten Menschen. Waren in Reaktion auf die Brandanschläge der 1990er Jahre noch Hunderttausende gegen Rassismus auf die Straßen gegangen, so hatte eine Solidarisierung gegen die Taten des NSU-Komplexes weitestgehend gefehlt. Die Lücke, die rassistische Spaltung in der Gesellschaft, war offensichtlich größer geworden.

Viele Betroffene schlossen sich der Nebenklage im NSU-Prozess an. Sie blieben also nicht nur Zeug*innen, sondern wurden aktive Kläger*innen, deren anwaltliche Vertretung sich im Gerichtsprozess für die Aufklärung der Hintergründe einsetzt. Das bedeutet auch, die Verstrickung staatlicher Akteure in den Komplex NSU auszuleuchten. Die IG Keupstraße, die die Interessen der Gewerbetreibenden vertritt, setzte sich von Anfang an für ein angemessenes Gedenken ein und für das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft. Sie organisierte mit weiteren kommunalen und zivilgesellschaftlichen Akteuren Feste, die an den Anschlag erinnerten, aber auch die Vielfalt der Keupstraße zelebrierten. Der Anschlag hat Verletzung, Gewalt, Trauma und unermessliches Leid gebracht, aber er hatte auch eine einzigartige Solidarität zur Folge. Der NSU hat sein Ziel nicht erreicht, im Gegenteil: Die Keupstraße als Symbol der „Gesellschaft der Vielen“ blüht wieder auf, schöner als je zuvor. Nicht nur in Köln, überall.

Perspektivwechsel oder: „Von der Banalität des Bösen zum Recht auf Rechte“

Wer spricht und über wen wird gesprochen? In der medialen Berichterstattung und im politischen Diskurs überwiegt der Blick auf die Täter*innen. Was waren ihre Beweggründe, wie tragisch war ihr Liebesleben, was machen ihre Anwält*innen und was für ein sommerliches Kleid trägt Zschäpe da eigentlich? Immer dreht sich alles um die Täter*innen. Uwe, Beate – gefallene Kinder. Die Banalität des Bösen, ein Nachrichtenfaktor. Zu selten kommen die Betroffenen selbst zu Wort. Mehmet, Ayfer – sie bleiben fremd. Anknüpfungspunkte für Empathie und das Lernen von dem Wissen der von Rassismus Betroffenen findet so nicht statt.

 

„Ich möchte, dass die Menschen uns nicht als Opfer sehen, sondern als ein Teil von sich selbst“, wünscht sich Meral Şahin, Vorsitzende der IG Keupstraße, auf dem Tribunal ‘NSU-Komplex auflösen’. Der Angriff des NSU war ein Angriff auf eine Migrationsgesellschaft, die durch jahrzehntelange Kämpfe um Rechte entstanden ist. In ihrer zwangsläufigen Positionierung gegen strukturelle Entrechtung tragen die Kämpfe von Migrant*innen zu einer permanenten Ausweitung individueller und kollektiver Rechte und damit zu einer Demokratisierung der gesamten Gesellschaft bei. Wenn Migrant*innen die ihnen zugewiesenen Plätze verweigern und so Privilegien infrage stellen, weiten sie den Raum gesellschaftlicher Teilhabe aus – für alle. Migration bedeutet nicht nur, sich Rechte zu nehmen, die man gar nicht besitzt, sondern dass dieser Prozess unendlich und unabschließbar ist. Es geht um mehr als nur Gleichheit, es geht um das grundsätzliche Recht, Rechte zu haben und zu bekommen. Es geht um ein Recht auf Rechte, das über die bestehenden Verhältnisse weit hinausgeht. Diesen demokratisierenden Impuls der Migration zu stoppen war die Motivation des NSU-Terrors, der Komplizenschaft des „Verfassungsschutzes“, der Verfolgung durch die Innenbehörden, der Stigmatisierung der Medien, der Ausgrenzung durch Politiker*innen und der Empathielosigkeit der Mehrheitsgesellschaft – sie alle sind gescheitert. Es wird Zeit, dass die Perspektive der Migration eine Perspektive der gesamten Gesellschaft wird!

Leerstellen der Anerkennung oder: „Das Erinnern wird erkämpft“

 

Durch die rassistische Ermittlungspraxis der Polizei und die Verleumdung der Opfer wurde die Trauerarbeit der Angehörigen erschwert. Semiya Şimşek, Tochter des ersten NSU-Opfers Enver Şimşek, sagte auf der von der Bundesregierung ausgerichteten Trauerfeier im Jahr 2012: „Elf Jahre durften wir nicht einmal reinen Gewissens Opfer sein.“
1993 hatte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl einen Besuch der Trauerfeier der Familie Genç in Solingen nach dem neonazistischen Brandanschlag auf ihr Haus und den Mord an fünf Familienmitgliedern noch mit dem Verweis, nicht in „Beileidstourismus ausbrechen [zu wollen]“, abgelehnt. Zwanzig Jahre später wusste Bundeskanzlerin Angela Merkel die „richtigen“ Sachen zu sagen, sprach von einem „Angriff auf das ganze Land“, versprach eine „lückenlose Aufklärung“, setzte eine couragierte Ombudsfrau für die Wünsche der Betroffenen ein. Den Worten folgten aber keine Taten. Das nur punktuelle Mit-Leiden und die Entpolitisierung der Tatmotive durch die Bundesanwaltschaft führten zu einer weiteren Ausgrenzung der migrantischen Erfahrungswelt. Mehr als nur ein peinlicher Fehler war das falsch eingravierte Todesdatum von İsmail Yaşar in der sogenannten „Erklärung der Bürgermeister“ bei der Denkmalseinweihung in Dortmund und Nürnberg – es bleibt auch eine Leerstelle der Anerkennung.
Umstritten bleibt der Umgang der Kölner Stadtgesellschaft mit der Erinnerung an die Bombenanschläge. Ein Gedenken an den Anschlag in der Probsteigasse wird nur von Initiativen, nicht von der Stadt getragen. Die Gedenkfeier „Birlikte“ zum zehnten Jahrestag des Anschlags auf der Keupstraße mit 70.000 Besucher*innen bedeutete einerseits für Betroffene durch offizielle Entschuldigungen und den Besuch des Bundespräsidenten eine Anerkennung. Auf der anderen Seite stellte es die Eventisierung eines Gedenkens dar, die die tatsächlich Betroffenen erneut an den Rand drängte. Von den Geschädigten aus der Keupstraße konnte an diesem Tagniemand eine Rede auf der großen Bühne halten.
Bis heute ist kein Mahnmal, keine Gedenktafel, die offiziell errichtet wurde, auf die persönlichen Wünsche der Betroffenen eingegangen. Hoffnung macht das geplante Mahnmal auf der Keupstraße. Das Konzept wird von den Betroffenen der Keupstraße befürwortet. Doch droht es zwischen kommerziellen Interessen und städtebaulicher Ideenlosigkeit abgewertet zu werden. So gilt weiter das Diktum von Ibrahim Arslan, Überlebender der rassistischen Brandanschläge von Mölln 1992: „Reclaim & Remember: das Erinnern wird erkämpft.“

+++ Klagen – Anklagen – Einklagen +++ Grieve – Indict – Demand +++ Yastayız – Davacıyız – Taleplerimiz var

(c) Jasper Kettner
Tribunal 'NSU-Komplex-auflösen' am 17.05.2017 in Köln (c) Jasper Kettner

Klagen – Anklagen – Einklagen / Grieve – Indict – Demand / Yastayız – Davacıyız – Taleplerimiz var
Gesine Schütt, Ulf Aminde, Timo Glatz für das Tribunal ‚NSU-Komplex auflösen’

Animation Mahnmal: Studio Ulf Aminde
Text: Timo Glatz
Lektorat: Philine Lissner, Cordula Lissner, Peter Bach, Massimo Perinelli
Übersetzung: Angela Anderson, Ilke Sener, Ulaş Sener
Grafik: Gesine Schütt, Timo Glatz, Ulf Aminde

Weiterführende Links:
www.mahnmal-keupstrasse.de
www.nsu-tribunal.de
www.keupstrasse-ist-ueberall.de
www.ulfaminde.com
www.academycologne.org