Caliban und die Hexe

Die Autorin und Aktivistin Silvia Federici hat in ihrer eindrucksvollen Analyse den Zusammenhang zwischen den historischen Hexenverfolgungen und den Grundlagen für die Schaffung des Kapitalismus – die sogenannte ursprüngliche Akkumulation – herausgearbeitet. Der feministische Blick von Federici ist zum unerlässlichen Beitrag zur marxschen Kapitalismuskritik geworden. 

Albrecht Dürer

Silvia Federici: Ich bin Lehrerin und Schriftstellerin. So stelle ich mich normalerweise vor. Aber vor allem habe ich mich seit den 1970ern als Feministin und Aktivistin engagiert. Ich habe über die Theorie und Geschichte von Frauen geschrieben. Ich war auch an vielen anderen politischen Bewegungen beteiligt, zum Beispiel die Anti-Globalisierungsbewegung, die Bewegungen um Bildung, vor allem um Kämpfe von Student_innen und Lehrer_innen und die Bewegung gegen die Todesstrafe. Jetzt interessiere ich mich sehr für die Occupy-Bewegung und die Bewegung um die Commons.

Ralf Ruckus: Du warst an der Frauenbewegung und an der Arbeiter_innenbewegung in Italien beteiligt. Wie sah deine Beteiligung aus?

Silvia Federici: Ich war über das Netzwerk “Lohn für Hausarbeit” an der Frauenbewegung in Italien beteiligt. Die internationale Kampagne “Lohn für Hausarbeit” begann 1972. Im Sommer 1972 trafen sich einige Frauen aus verschiedenen Ländern in Padua. Das war der Beginn der Kampagne “Lohn für Hausarbeit”. Ich hing also über dieses Netzwerk mit den Frauen in Italien zusammen, aber die Beziehungen bestanden auch lange nach dem Ende des Netzwerks weiter. Ich habe immer noch viele Kontakte.

Ralf Ruckus: Das Buch “Caliban und die Hexe” kam viel später heraus. Wie hängt deine frühere Beteiligung in diesen Bewegungen mit dem Buch zusammen? Wann hattest du die Idee zu dieser Untersuchung?

Silvia Federici: Ich begann Mitte der 70er. Wie ich im Vorwort zu “Caliban und die Hexe” schrieb, wollte ich mir die Geschichte dessen anschauen, was als Unterdrückung der Frauen bezeichnet wurde. Ich wollte sehen, wie sie den Kapitalismus verändert hatte, als Antwort auf viele Debatten der Frauenbewegung auf die Frage, ob die geschlechtliche Diskriminierung eine vererbte Tradition, ein Überbleibsel früherer patriarchaler Beziehungen oder ein spezifischer Typus sozialer Realität des Kapitalismus war. So begann ich diese historische Arbeit.
Ich fing mit dem 19. Jahrhundert an. Da ich keine guten Antworten finden konnte, musste ich bis ins Mittelalter zurückgehen. Nach einer Weile begann ich mit Leopoldina Fortunati zusammenzuarbeiten. Wie ich im Vorwort von “Caliban und die Hexe” schrieb, gab es eine frühe Version dieser Arbeit, die aber deutliche Unterschiede aufwies und 1984 auf Italienisch erschien. Ich begann damals die Diskussion über die Hexenverfolgung und die Diskussion über die Transformation des Körpers im Kapitalismus zu skizzieren. Wir diskutierten aber auch andere Themen, z.B. die Transformation der Kindererziehung am Beginn der kapitalistischen Entwicklung. Diese Arbeit beschäftigt mich also seit Jahrzehnten. Bis 2004 hatte ich damit schon fast 30 Jahre verbracht.

Ralf Ruckus: Es gibt das Buch, das du 1984 in Italien herausgabst. Wie hast du die Forschung organisiert? Hast du mit Fortunati und anderen zusammengearbeitet?

Silvia Federici: Wir arbeiteten getrennt, weil ich in New York war und sie in Padua. Wir arbeiteten getrennt, tauschten aber grundlegende Informationen aus. Das damalige Buch konzentrierte sich auf verschiedene Aspekte der Reorganisation der Reproduktion. So gibt es ein Kapitel zur Transformation der Formen von Sozialität, ein Kapitel über die Neudefinition der Figur des Kindes, und ein Kapitel speziell zur Frage der Sexualität. Aber das Buch stand in einem anderen Rahmen. Das war vor dem Beginn der Globalisierung, und wir wollten zeigen, dass nicht nur die klassisch-marxistische Erklärung der ursprünglichen Akkumulation sondern auch der operaistische Ansatz von Klassenkampf und kapitalistischer Entwicklung nicht zufriedenstellend waren.
Eines der Themen in der Einleitung war: “Die Gesellschaft kommt zuerst”. Das bedeutet: erst kommt die Reproduktion der Arbeitskraft und dann kommt die Fabrik. Das widersprach Trontis Reihenfolge, der die Fabrik für die Hauptantriebskraft hielt, die dann die Gesellschaft verändert. Wir argumentierten, dass man in der Geschichte des Kapitalismus sehen kann, dass dieser zunächst einen bestimmten Arbeitertypus schaffen musste, und erst später auf der Basis dieser Formation eines Arbeitertypus auch eine bestimmte Form der Arbeitsorganisation hervorbrachte, insbesondere die großangelegte Organisation industrieller Arbeit.

Ralf Ruckus: Bevor wir über “Caliban und die Hexe” sprechen: Nachdem du das italienische Buch herausgegeben hattest, 20 Jahre vor “Caliban und die Hexe”, wie ging die Diskussion weiter? Hast du mit anderen zusammengearbeitet?

Silvia Federici: Nein, ich habe mehr oder weniger allein weitergearbeitet. Die wichtigste Entwicklung damals war, dass ich in den frühen 80ern nach Afrika ging. Ich war etwa drei Jahre in Afrika, und diese Erfahrung war grundlegend, weil ich in Afrika den Beginn der Globalisierung mitbekam. Was ich sah, waren die ersten Elemente der Rückkehr der ursprünglichen Akkumulation durch die Auferlegung der strukturellen Anpassungen und alle Maßnahmen, die in Reaktion auf die Schuldenkrise ergriffen wurden.
Wie ich im Vorwort zu “Caliban und die Hexe” schrieb, kam ich ständig auf die Phase der ursprünglichen Akkumulation zurück. Ich sah mit eigenen Augen, wie die Diskussion über die Schuldenkrise, die vom IWF diktierten Bedingungen und die Diskussion der Austerität mit einem ideologischen Frontalangriff auf Frauen Hand in Hand gingen. Diesen wurde auf viele Arten und Weisen vorgeworfen, dass sie die Krise mit ihren überzogenen Forderungen, und ihrem Druck auf die Arbeiter, Familienmitglieder usw. für bessere Lebensbedingungen hervorgerufen hätten. Die erstaunliche Ähnlichkeit der Ereignisse in Nigeria, die ich in den 80ern mitbekam, und dem, was ich über die Phase der ursprünglichen Akkumulation las, war für mein eigenes Umdenken sehr wichtig und führte dazu, dass ich die Diskussion in einen breiteren Kontext stellte.

Ralf Ruckus: Lass uns über das Buch sprechen. Es ist in mehrere Kapitel aufgeteilt. Kannst du uns den Inhalt und die wichtigsten Thesen vorstellen?

Silvia Federici: Im Ersten geht es um die Krise des Feudalismus und besonders um die Gründe für die Entwicklung des Kapitalismus. Das war für mich sehr wichtig, um zu verstehen, wie die neuen Strukturen auszusehen hatten, die der Kapitalismus schaffen musste. Ich wollte vor allem die Annahme entmystifizieren und zurückweisen, dass der Kapitalismus eine Art Evolution der ökonomischen Strukturen darstellte, die sich im Mittelalter herausgebildet hatten. Ich wollte zeigen, dass der Kapitalismus eine Konterrevolution war, dass er eine Antwort auf eine Reihe von sozialen Kämpfen und Bewegungen war. Das war mir sehr wichtig, weil es Verbindungen herstellte und mir Einsichten in die Kämpfe verschaffte, die Frauen im Rahmen der Kämpfe gegen die feudale Macht geführt hatten. Es ging darum zu verstehen, warum dieser Angriff kam, warum die Entwicklung des Kapitalismus mit diesem massiven Angriff auf die Frauen beginnen musste.
Dies war eine meiner aufregendsten und befriedigendsten Untersuchungen, weil ich auf eine Reihe sozialer Bewegungen stieß, wie die häretische Bewegung, die ich durch meine früheren Studien der europäischen Geschichte kaum kannte. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie wichtig diese Bewegungen gewesen waren. Die häretische Bewegung war wirklich eine Be- wegung sozialer Kämpfe. Es war eine Bewegung gegen die feudale Macht, aber auch gegen den Beginn der Kommerzialisierung sozialer Beziehungen. Ich erkannte auch, dass die Frauen in diesen Bewegungen eine starke Rolle gespielt hatten. Frauen standen im Zentrum dieser Bewegungen. Das war also wichtig. Erlaube mir, zwei Sachen zum Verständnis des Kapitalismus zu sagen.
Erstens, der Kapitalismus entstand als Antwort auf Kämpfe, und besonders als Antwort auf die Arbeitskrise, die Krise des Kommandos über die Arbeit, die diese Bewegung geschaffen hatte. Es ist kein Zufall, dass der Kapitalismus sehr daran interessiert war, Verhältnisse zu schaffen, die eine maximale Ausbeutung der Arbeitskraft ermöglichen.
Zweitens, Frauen spielten in diesen Kämpfen eine wichtige Rolle. Die Verweigerung bestimmter Beziehungen mit Männern und eine besondere Haltung zur Fortpflanzung spielten eine wichtige Rolle in diesen Kämpfen. Die häretische Bewegung gab Frauen z.B. gewissermaßen den gleichen Status wie Männern. Diese Bewegung sah auch die Unterordnung von Frauen kritisch, und ebenso den Ausschluss von Frauen von gewissen Machtpositionen, zum Beispiel in der Organisation und Anwendung der Sakramente. Das war wichtig, weil es ermöglichte, den besonderen Angriff auf Frauen zu verstehen.

Ralf Ruckus: Soweit zum ersten Kapitel.

Silvia Federici: Das zweite Kapitel ist eine breite Analyse der wichtigsten Prozesse, die den Übergang zum Kapitalismus ausmachten. Mit anderen Worten, das Kapitel versucht den Prozess der Akkumulation neu zu bestimmen, über den Marx am Ende des ersten Bandes des Kapitals schreibt, aber die Neubestimmung passiert aus einer anderen Blickrichtung. Es ging darum, die Geschichte zu schreiben, die Marx nicht schrieb, also die Geschichte der ursprünglichen Akkumulation aus dem Blickwinkel der Transformation der Reproduktion der Arbeitskraft, und auch der Transformation der Position der Frauen. Es schaut auf alle Prozesse. Zum Beispiel geht es zurück und untersucht die Einhegungen, die Trennung der Arbeiter_innen von ihrem Land, aber nicht nur das. Eines der Schlüsselthemen der Analyse ist, das es sich hier nur um den Anfang der Entwicklung des Kapitalismus handelte. Genauso wichtig war die Trennung von Produktion und Reproduktion. Das ist eines der Hauptthemen des zweiten Kapitels. Anders gesagt, der Kapitalismus begann nicht nur mit der Trennung der Bauern von ihrem Land, die übrigens auch in der Neuen Welt stattfand, sondern er beginnt mit der Auftrennung, nicht im physischen Sinn sondern in Bezug auf die sozialen Beziehungen, von Produktion und Reproduktion.
Schon früh, im 16. und 17. Jahrhundert sehen wir eine Reihe von Aktivitäten, die nicht mehr als ökonomische Aktivitäten erscheinen, und das sind reproduktive Aktivitäten. Diese wurden immer weiter naturalisiert, vergeschlechtlicht und als Frauenarbeit angesehen. Das steht im Zentrum dieses Kapitels: Wenn wir über die Vorbedingungen für die Entwicklung des Kapitalismus sprechen, müssen wir über einen viel breiteren Prozess sprechen als Marx annahm. Dieser schließt die Schaffung einer ganzen Sphäre von Aktivitäten ein, die strukturell entwertet werden. Diese Entwertung ist so strukturell, dass durch diese Transformation des Kapitalismus hindurch die Entwertung bis zu unseren Tagen immer wieder reproduziert wurde. Die ausgeweitete Globalisierung stellt eine Rückkehr der ursprünglichen Akkumulation dar. Im Zentrum dessen steht die Entwertung der reproduktiven Aktivitäten.
Das dritte Kapitel dreht sich um den Körper. Es schaut sich an, was mit dem Körper in der kapitalistischen Reorganisation von Produktion und Arbeit passiert. Hintergrund dieses Kapitels ist wiederum zum Teil, die Geschichte weiter zu schreiben, die Marx nicht schrieb. Zum Teil geht es auch darum herauszustreichen, dass der Kapitalismus ein einzigartiges System ist. Es ist besonders wegen der anderen Formen der Ausbeutung, indem es Arbeitskraft als grundlegende Form des Reichtums ansieht. Das ist sehr wichtig für die Form disziplinierender Herrschaft, die er schaffen muss. In dem Moment, in dem Arbeitskraft als fundamentale Form von Reichtum gesehen wird, müssen eine ganze Reihe von Maßnahmen gegen den Körper ergriffen werden. Denn der Körper trägt viele Ressourcen in sich, die entwickelt und maximiert werden müssen. Dabei gibt es natürlich eine Dialektik von Entwicklung und Repression. Hier stehe ich Foucault sehr kritisch gegenüber. Er betont immer das Moment der Entwicklung, dass sich neue produktive Kapazitäten entwickeln. Allein aus der Perspektive der Repression kann die Geschichte nicht geschrieben werden. Das ist richtig, aber die Repression ist das erste Moment. Du kannst keine Entwicklung neuer Kapazitäten des Körpers haben ohne die Zerstörung vieler Verhaltensformen, Praktiken, Glaubensvorstellungen, die für die Kultur der vorkapitalistischen Gesellschaft grundlegend waren, einschließlich der mittelalterlichen Gesellschaft in Europa.
Das dritte Kapitel ist also eine Beschreibung der verschiedenen Strategien, die der Kapitalismus durch Gesetze, durch die Transformation der Alltagsorganisation umsetzt. Es beschreibt auch die Reflexion dieser Transformation, die Vermittlung im diskursiven, disziplinären Bereich. Der disziplinäre Bereich ist hier gemeint im Sinne der Fachrichtungen, mit anderen Worten, in der intellektuellen, philosophischen Diskussion der damaligen Zeit, zum Beispiel in den Arbeiten von Descartes und Hobbes. So interpretiert dieser z.B. den Aufstieg des Cartesianismus als besondere Antwort auf den Klassenkampf, und als Antwort auf die Anforderungen der neuen Disziplin der Arbeit, die Forderungen und Prozesse der “Selbstausbeutung”, der Selbstverwaltung usw.
Dann ist da das vierte Kapitel zu den Hexenverfolgungen. Es handelt sich um eine lange Analyse der Hexenverfolgungen, wie sie abliefen, was hinter den Hexenverfolgungen in den verschiedenen Ländern stand, mit allen Variationen je nach Land. Es ist im Grunde auch ein Versuch zu erklären, wie die Hexenverfolgungen mit dem breiteren Angriff auf das Proletariat und dem breiteren Prozess der ursprünglichen Akkumulation zusammenhingen, die in jener Zeit stattfanden. Und es schaut auf die verschiedenen Formen, in denen die Hexenverfolgung mit diesen Entwicklungen zusammenhing, indem es schaut, wer die Hexen waren, vom sozialen Status her, und welche Verbrechen ihnen vorgeworfen wurden. Es zeigt, dass es eine direkte Verbindung gibt zwischen den Vorwürfen der Hexerei und dem Prozess der Einhegungen von Land. Es gibt auch einen Zusammenhang zwischen den Vorwürfen und Verfahren der Hexerei und dem Angriff und der Neudefinition der weiblichen Sexualität, die im Grunde auf ihre reproduktive Funktion reduziert wird. Eine der entscheidenden Aufgaben in diesem Moment für den Kapitalismus ist auch, die Kontrolle über die weiblichen Reproduktionsfähigkeiten zu übernehmen. Die Kontrolle über die weiblichen Körper, die Reproduktion der Frauen, ihre biologische Reproduktion und die weibliche Sexualität ist extrem wichtig, sowohl für die neue Arbeitsdisziplin als auch für die Nutzung des weiblichen Körpers für die Reproduktion der Arbeiterklasse, die biologische Schaffung einer neuen Generation von Arbeiter_innen. Es zeigt, wie die Hexenverfolgung in Richtung auf diese Ziele wirkte.
Hier gibt es wieder eine Polemik zu Marx und Foucault. Beide erkennen die Bedeutung dieses Ereignisses nicht, das ich für fundamental für die Schaffung der modernen kapitalistischen Gesellschaft halte. Es handelt sich um eins der großen Massaker, die das Erscheinen des modernen Kapitalismus einleitet. Da gibt es den Sklavenhandel, die Eroberung der Amerikas und die Verfolgung der Hexen.
Das letzte Kapitel überträgt auch Teile der Analyse der ersten vier auf die Neue Welt. Es zeigt, dass die Hexenverfolgung kein rein europäisches Phänomen ist, sondern ab Ende des 16. Jahrhunderts auch in die sogenannte Neue Welt exportiert wurde. Die Auslöschung der Hexerei wurde breit von Missionaren und Eroberern eingesetzt, sowohl als Mittel der Eroberung, um Widerstand zu brechen, und besonders zur Schaffung einer neuen Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern auch in der Neuen Welt. Es schaut besonders auf die Anden und die Kämpfe der Frauen in den Anden, die diese schon im 16. Jahrhundert führten gegen die Kolonisierung sowie die Herrschaft der Priester und der neuen Religion.

Ralf Ruckus: Gut, dass du schon deine Kritik an Marx und Foucault erwähnt hast. Aber lass uns noch einmal zurückgehen. Du sprachst von der Trennung von Produktion und Reproduktion im frühen Stadium der Schaffung des Kapitalismus. Was war die Macht dahinter? Wie wurde die Trennung durchgesetzt?

Silvia Federici: Die Trennung von Produktion und Reproduktion wurde auf viele Arten durchgesetzt. Im 16. Jahrhundert beginnt in vielen Teilen Europas der Ausschluss der Frauen aus den Zünften, den Organisationen der Arbeiter_innen. In einigen Städten Deutschlands gab es sogar ein städtisches Verbot der Lohnarbeit von Frauen. Wir haben Dokumente, die zeigen, dass Frauen Einspruch einlegen mussten, um von den lokalen Behörden eine Erlaubnis zur Lohnarbeit zu bekommen, oft mit dem Argument, dass sie verwitwet waren und keine andere Form der Unterstützung hatten.
Im Laufe eines Jahrhunderts konnten Frauen nur noch reproduktive Arbeiten bekommen, vor allem als Mägde, Hausangestellte oder Ammen. Amme oder Wäscherin waren gängige Jobs für bäuerliche Frauen. Frauen wurden von den neuen Arbeitsformen ausgeschlossen, bis ins späte 18. Jahrhundert, als sie bei der Industrialisierung einbezogen wurden. Sie wurden dann die Arbeitskraft der neuen Fabriken. Es gab auch eine massive Ausweitung der Prostitution. Ich spreche im Buch davon, dass Prostitution plötzlich zum Massenphänomen wurde. Interessanterweise wurde sie natürlich auch kriminalisiert. Im Mittelalter war das nicht der Fall.

Ralf Ruckus: Du erwähntest, dass Frauen aus den Zünften ausgeschlossen wurden. Du sprachst auch von der Rolle des Staates bei der Schaffung zweier Teile der neuen Klasse. Welche Rolle spielte der Staat genau?

Silvia Federici: Der Staat spielte in dieser Zeit eine sehr wichtige Rolle bei der Schaffung einer ganzen Struktur, die hinter der neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung stand. Ich erwähnte schon die Regulation der Arbeit und die Regulation der Sexualität, wie die Kriminalisierung der Prostitution, aber es gibt auch eine ganze Reihe neuer Vorschriften mit harten, nie dagewesenen Strafen, z.B. für Frauen, die versuchen, ihre Gebärfähigkeit zu kontrollieren. Der Prozess der Fortpflanzung wurde in neuer Weise polizeilich überwacht, mit einschneidenden Folgen für das Leben der Frauen. Und jeder Verstoß gegen diese Maßnahmen wurde kriminalisiert und mit dem Tode bestraft. Zum Beispiel wurden fast genauso viele Frauen für Kindsmord verfolgt und hingerichtet wie für Hexerei. Im 16. und 17. Jahrhundert wird Kindsmord zum zweitwichtigsten Verbrechen, für das Frauen bestraft wurden.
Am wichtigsten ist, dass der Staat die Instanz ist, von der alle Gesetze gegen Hexen ausgehen. Anders als die Hexenverfolgungen, die heute stattfinden – und über die wir später sprechen – war es der Staat. Die Hexenverfolgung ist eine Massenverfolgung, die ganz mit legalen Mitteln vorging. Sie wurde in den meisten Ländern durch staatliche Gesetzgebung angestoßen. Es ist der Staat, der neue Gesetze verkündet, die sagen: Das sind Hexen, wir müssen sie verfolgen und die Bevölkerung muss uns dabei unterstützen. Diese Verordnungen wurden dann in Kirchen verlesen und in Dörfern und Städten verbreitet. Dann wurden alle aufgefordert, eine Position zu beziehen, auf dieser oder jener Seite. Wenn du nicht kooperiert hast, bestand natürlich die Gefahr, dass du als Hexe angeklagt wurdest. Der Staat spielte also eine zentrale Rolle bei der Schaffung der neuen geschlechtlichen Arbeitsteilung und auch den neuen Geschlechterrollen.

Ralf Ruckus: Eine Sache möchte ich klären, weil die meisten diese Argumentation nicht kennen. Du beschreibst den Kapitalismus als Konterrevolution gegen antifeudalen Widerstand. Das ist ein komplexes Thema. Möchtest du was dazu sagen? Warum Konterrevolution und gegen wen? Ein anderes Bild ist “Kapitalismus als anti-feudale Reaktion”. Du hast da eine andere Meinung.

Silvia Federici: Ja, ich habe eine ganz andere Ansicht. Es gibt die liberale Ansicht, dass die Figur des Kapitalisten sich aus der des Kaufmanns entwickelt. Dass an einem bestimmten Punkt im 13., 14. Jahrhundert mit der Wiederbelebung des Handels und nach dem großen Einbruch als Folge der “barbarischen” Invasionen der Handel in den städtischen Zentren des Mittelalters erneut beginnt. Wir sehen Formen eines Protokapitalismus. Von dieser Figur aus argumentieren einige Leute sogar, dass der Kapitalismus auf der Basis des Fernhandels zur Beschaffung von Luxusgütern für den Adel aus dem Boden wächst.
Ich verstehe das nicht so. Wenn du diese Politik und diese Entwicklungen ansiehst, die der Kapitalismus einführt, und du siehst sie nicht in einer Gegend sondern auf globaler Ebene, dann stellst du fest, dass die Hauptsorge der protokapitalistischen Klasse die Wiedererlangung der Kontrolle über die Arbeit war. Mit anderen Worten: Der Kapitalismus entstand aus der Krise.
Es ist klar und deutlich die Antwort auf die Krise eine ganzen Reihe von Strukturen, auf die Tatsache, dass es eine aristokratische Klasse gab, aber auch eine kaufmännische.
Nicht nur die aristokratische sondern auch die berühmte Kaufmannsklasse, aus der heraus sich der Kapitalismus entwickelt haben soll, befinden sich im 14. Jahrhundert in der Krise. Sie sind seit den bedeutenden Arbeiter_innenkämpfen in der Krise, und der Kapitalismus reagiert direkt auf diese Arbeiter_innenkämpfe. Der beste Beleg, den ich anführe – und das ist nicht meine Entdeckung – ist die Intensität der Kämpfe in den städtischen und ländlichen Gegenden in dieser Phase, zum Beispiel die Bauernkriege, die über Europa hinwegfegen, in Spanien, Frankreich, Deutschland, England – und auch die Kämpfe der Handwerker_innen. Wir sehen also eine Struktur, die sich nicht reproduzieren kann. Sehen wir uns ihre Reaktion an, zum Beispiel die Eroberung [der Neuen Welt].
Die Kapitalisten sind keine neue Klasse. Sie sind eine neue Klasse, wenn wir die sozialen Beziehungen anschauen, aber es ist im Grunde der feudale Adelige in England, der sich selbst neu erschafft. Es ist der Kaufmann, der Kirchenmann, der eine Reihe paralleler aber miteinander zusammenhängender Entwicklungen anfängt. Die Eroberung [der Neuen Welt], also die Externalisierung, als Reaktion auf die Krise, die Beschaffung neuer Güter und neuer Arbeitskräfte durch Eroberungen. Die Amerikas stellen das Edelmetall zur Verfügung, das in Europa eine Marktökonomie schafft. Es ist das Silber aus der Neuen Welt, das diese Marktökonomie ermöglicht. Es ist also klar, dass er nicht aus einem evolutionären Prozess heraus entstand. Die Kräfte, die zum Kapitalismus führten, waren in Europa nicht vorhanden.
Es gab die Krise eines Systems, dass sich nicht selbst reproduzieren konnte, die Krise einer herrschenden Klasse, die sich nicht reproduzieren konnte. Diese herrschende Klasse musste sich selbst verwandeln und ihre Grenzen übertreten, um Güter, Arbeitskräfte und den Reichtum zu beschaffen, der ihr ermöglichte, sich auf neue Art wieder anzuschieben. Und das ist ein Prozess. Als der Kapitalismus sich als System formt, tut er das als Ergebnis vieler Entwicklungen und vieler Initiativen, die beginnen, eine bestimmte Konfiguration herauszubilden. Das wird ab da koordiniert und nimmt eine bestimmte Konfiguration an. Am Ende des 16. Jahrhunderts ist die Form der neuen globalen Ökonomie schon deutlich zu sehen, der Beginn einer globalen Ökonomie.

Ralf Ruckus: Eine Sache hast du schon erwähnt, aber um das noch mal klarer rauszustellen: deine Kritik an Marx’ Verständnis der ursprünglichen Akkumulation. Historisch ist das ein Prozess, der an denen anschließt, von denen du gerade erzählt hast. Du hast die Einhegungen erwähnt, auf die sich auch Marx bezieht. Kannst du diese beschreiben, unter Einbezug von Marx’ Konzept und deiner Kritik?

Silvia Federici: Zwei Sachen sind problematisch in Marx’ Beschreibung der ursprünglichen Akkumulation. Zunächst mal hält er nur den Prozess der Trennung der Arbeiter_innen von den Produktionsmitteln, die Vertreibung der Bauern usw. für entscheidend für das neue kapitalistische System. Das ist sehr wichtig, aber es reicht nicht. Auch der Angriff und die blutige Gesetzgebung gegen den Vagabunden dazu ist sehr wichtig, reicht aber auch nicht. Ich wollte zeigen, dass da noch viel mehr ist. Wenn wir über die Trennung sprechen, müssen wir auch über die Formierung dieser anderen Sphäre von Aktivitäten sprechen, die anfangen zu verschwinden, die unsichtbar und als natürliche Frauenarbeit definiert werden. Diesen ganzen Teil sieht Marx nicht. Über den anderen Teil gibt es eine große Debatte, und ich muss sagen, dass Marx sich hier nicht klar äußert, sodass man seine Ansicht nach beiden Seiten hin interpretieren kann.
Die Frage ist, ob Marx die ursprüngliche Akkumulation für einen Prozess hält, der am Anfang des Kapitalismus auftritt und eine besondere Phase darstellt, oder als einen Prozess, der sich fortsetzt und wiederkehrt. Dazu gibt es viele Positionen. Ich denke, was auch immer Marx gesagt hat, es gibt viele Stellungnahmen in diese oder die andere Richtung, aber meine Posi- tion ist, dass die ursprüngliche Akkumulation nicht abgeschlossen ist.
Diese ist kein Ereignis, das auf den Ursprung des Kapitalismus begrenzt ist. Sie tritt in der Geschichte des Kapitalismus immer wieder auf. Man kann sogar sagen, dass sie in jedem Moment der kapitalistischen Verhältnisse auftaucht, weil jeder Moment der kapitalistischen Verhältnisse auf der Trennung der Menschen von ihren Reproduktionsmitteln aufbaut. Wenn du dir die Geschichte des Kapitalismus anschaust, erkennst du diese großen Momente der Wiederkehr der ursprünglichen Akkumulation. Für mich sind das die Momente, wenn der Kapitalismus in der Krise steckt und die Kapitalistenklasse zur Wiedererlangung des Kommandos über den Akkumulationsprozess massive Angriffe starten muss, durch Krieg, durch Enteignung oder z.B. durch Kolonisierung. Es ist kein Zufall, dass die Blütezeit des Imperialismus mit dem Höhepunkt der Arbeiter_innenkämpfe in Europa zusammenfällt, dem Höhepunkt der sozialistischen Bewegungen in Europa z.B. Ende des 19. Jahrhunderts.
Ich verstehe z.B. den Ersten Weltkrieg und auch den Zweiten Weltkrieg als Momente, in denen der Kapitalismus die Arbeiterklasse disakkumulieren musste. Während das Wesen des Kapitalismus in der Akkumulation von Arbeitskraft besteht, waren diese Kriege die Disakkumulation des Kampfpotentials. Was auf den Feldern des Ersten und des Zweiten Weltkrieges zerstört wird, ist die Arbeiter_innenklasse, die die Russische Revolution gemacht hatte. Das wäre auch in Europa möglich gewesen.
Es ist wichtig festzuhalten, dass die ursprüngliche Akkumulation mit diesem wichtigen Moment zusammenhängt, in dem der Kapitalismus in der Krise steckt und das Kommando über die Arbeit zurückerlangen muss. Schauen wir auf den Prozess der Globalisierung heute, um zu verstehen, was Globalisierung ist, wie sie entstanden ist, was sie erreichen will. Das stimmt weitgehend mit dem Projekt der Kapitalistenklasse in diesen Momenten überein, wie z.B. dem der kolonialen Eroberungen, des imperialistischen Zugs nach Afrika usw.. Aus dem Blickwinkel der Globalisierung erkennen wir das Ziel, die Arbeitsmärkte zu erweitern, Menschen zu enteignen. Die Ausweitung des Arbeitsmarktes ist eine Vorbedingung für die Wiederherstellung der Arbeitsdisziplin.

Ralf Ruckus: Noch eine Frage zu diesem Übergang zum Kapitalismus bei Marx oder aus marxistischer Perspektive: Marx und mehr noch die Marxist_innen sehen den Kapitalismus als Vorbedingung des Kommunismus und die Entwicklung der Produktivkräfte als Vorbedingung. Wenn du über anti-feudale Kämpfe sprichst oder später gar über die Commons, erscheint das als Kritik daran.

Silvia Federici: Ja, das ist eine Kritik daran, weil ich denke, dass dieses nette Schema der Produktivkräfte und der Produktionsverhältnisse unterstellt, dass man diese voneinander trennen kann. Wenn man einmal die Produktivkräfte, einen bestimmten Typ der Arbeitsorganisation – einschließlich der Technologie – befreit hätte von bestimmten Eigentumsverhältnissen, die typisch für den Kapitalismus sind, dann hätte man die materiellen Bedingungen für eine kommunistische Gesellschaft geschaffen. Dieser Ansicht stehe ich sehr kritisch gegenüber. Zunächst mal kann man die sogenannten Produktionsverhältnisse [nicht abtrennen]. Nimm die Arbeitsteilung: Mit am produktivsten im Sinne der Akkumulation, der Arbeitsdisziplin und der Arbeitsorganisation ist die geschlechtliche und die internationale Arbeitsteilung sowie die Schaffung verschiedener Arbeitsregime gewesen.
Man kann die Entwicklung der Produktivkräfte nicht von den Verhältnissen trennen, die sie mit einer geschlechtlichen Arbeitsteilung geschaffen haben, was bedeutet, dass die Entwicklung der Produktivkräfte gleichzeitig eine Spaltung der Arbeiterklasse hervorbrachte. Die Vorstellung, dass man das klar voneinander trennen kann, dass der Kapitalismus diese Technologie und Organisation von Techniken einfach ausspuckte und wir sie herausnehmen und in eine Form egalitärer Verhältnisse überführen könnten, ist ein Mythos, weil diese Produktivität zum Teil genau darin bestand, Hierarchien zu schaffen und eine Spaltung der Arbeiterklasse herbeizuführen.

Ralf Ruckus: Lass uns weiter über die Hexenverfolgung sprechen. Im Buch entwickelst du deine Vorstellungen als Kritik existierender Untersuchungen der Hexenverfolgung. Kannst du das entlang dieser Studien beschreiben? Wie wurde die Hexenverfolgung geschildert und was ist deine Kritik?

Silvia Federici: Es ist interessant, weil es immer mehr Analysen über die Hexenverfolgung gibt. Übrigens, in letzter Zeit hat es weniger solcher Studien dazu gegeben. Diese Untersuchungen waren zeitweise in Folge der Frauenbewegung sehr zahlreich. Die Frauenbewegung hat die Frage der Hexenverfolgung zurückgebracht. Eine Reihe von Studien wurden von ihr inspiriert, aber jetzt geht die Zahl zurück. Im Allgemeinen scheuten sich diese Studien entweder, eine generelle Motivation für die Verfolgungen zu finden, und sie konzentrierten sich nur auf die Analyse der möglich machenden Bedingungen: es war möglich wegen diesem oder jenem. Sie versuchten jedoch nie, Hintergründe und Zusammenhänge zu finden. Oder wenn sie Hintergründe und Zusammenhänge suchten, bezogen sie sich auf die religiösen Kriege, die Reformation, im Grunde religiöse Konflikte. Es gab kaum Versuche, Zusammenhänge herzustellen. Die Feministinnen waren wirklich die ersten, die versucht haben, die Hexenverfolgungen mit der ursprünglichen Akkumulation und der Vertreibung der Bauern in Zusammenhang zu setzen. Zum Beispiel Starhawk, Barbara Ehrenreich und Deirdre English deuteten die Verbindung zwischen der Vertreibung der Bauern von den Commons und dem Sklavenhandel mit den Hexenverfolgungen an.
Vorherige Analysen von Historiker_innen waren aus dieser Sicht wenig zufriedenstellend. Manche sprachen über die Transformation, die Christianisierung der Bauern, die notwendig war als kulturelle Maßnahme zur Vorbereitung des Kapitalismus. Aus meiner Sicht sind die Hexenverfolgungen offensichtlich ein fundamentaler Vorgang. Ich muss eine wichtige Ausnahme nennen, auf die ich während meiner Untersuchung stieß. Ein italienischer Historiker und Philosoph, Luciano Perinetto, den ich zitiere und der sehr deutlich war. Ich halte ihn für außergewöhnlich.
Er behauptet, dass die Hexenverfolgung grundlegend für den Aufstieg des Kapitalismus war, dass sie dem Kapitalismus das Tor geöffnet hat. Anders als andere erkannte er auch, dass Hexenverfolgungen kein rein europäisches, sondern ein globales Phänomen waren, das im 16. und 17. Jahrhundert in die amerikanischen Kolonien getragen wurde. Wenn man sich die Chronologie anschaut, die Periode der Hexenverfolgung, wenn man sieht, wer die Hexen waren, mit welchen Mitteln sie verfolgt wurden, welcher Verbrechen sie angeklagt waren und welche Auswirkungen die Verfolgung hatte, befindet man sich sogleich in einer Welt, die jenseits der feudalen Beziehungen liegt.
Eine klassische, aus der Aufklärung stammende Argumentation von Historiker_innen ist z.B., dass dies Folge des klerikalen Aberglaubens und der Dominanz der Kirche war und hinter der Hexenverfolgung der Aberglauben und die Dominanz der Kirche im Mittelalter standen. In Europa begann, chronologisch gesehen, die wichtigste Periode der Hexenverfolgungen im späten 16. Jahrhundert. Das war der Höhepunkt der Hexenverfolgung, die Mitte des 15. Jahrhunderts begonnen hatte. Etwa 1450, 1460 sehen wir die ersten Dämonenlehren. 1480 gibt es den Malleus Maleficarum [Hexenhammer], einer der wichtigsten Texte der Dominikanermönche, der viele Jahre lang von Hexenverfolgern benutzt wurde. Auch die Gerichtsverfahren nehmen zu. Aber die Hexenverfolgungen nehmen zu in Deutschland, Schottland, der Schweiz, Teilen von Italien, England, – weniger in Spanien, wo nicht so viele Hexenverfolgungen stattfanden, eine interessante Ausnahme, die untersucht werden sollte – und in Frankreich. Es ist die Zeit von den 1570er bis zu den 1650ern. Die Hexenverfolgungen hielten dann noch ein weiteres Jahrhundert an, waren aber unbedeutend und weniger zahlreich.
Diese Zeit war sehr interessant. Damals blieb nichts vom Feudalismus übrig. Wir befinden uns mitten in der Herausbildung kapitalistischer Verhältnisse und erleben den brutalsten Angriff auf die Bevölkerung, auf die arbeitende Bevölkerung, den wir uns vorstellen können. Dies ist der Moment, in dem auch die Amerikas kolonisiert werden und das Silber ankommt, das wie der Wind ist, der die wirtschaftlichen Beziehungen eines großen Teils von Westeuropa zerstört und eine enorme Verarmung schafft, ähnlich der Verarmung, die wir mit den Strukturanpassungen und der monetären Abwertung in Afrika erleben. Das findet in Europa genau zur Zeit der Hexenverfolgungen statt, in einer Phase massiver Kämpfe gegen die Einhegungen, in denen Frauen einen prominente Rolle spielen, mit großen Aufständen. Es ist auch die Phase der Vertreibungen der Menschen von ihrem Land, und die Phase, in der alle Bedingungen geschaffen werden, neue Gesetze, neue Vorschriften auf lokaler und nationaler Ebene, die regeln, wo Arbeiter_innen wohnen sollen, ihre sexuellen Beziehungen, Prostitution, Reproduktion. Es wird damit begonnen, einen reproduktiven Code einzuführen und auch Arbeitshäuser zu schaffen. Menschen werden in Arbeitshäuser gesteckt, wenn sie sich weigern zu arbeiten. Angesichts dieses Ablaufs drängt sich die Frage auf, wie das mit den Hexenverfolgungen zusammenhing.
Wenn du siehst, wer diese Frauen waren, erkennst du, dass die Frauen, die als Hexen beschuldigt wurden, mit den rebellischen Subjekten übereinstimmten, die der Kapitalismus vernichten wollte. Rebellisch weil sie gegen die neuen Regeln rebellierten, aber auch weil sie eine Welt vertraten, die der Kapitalismus zerstören musste. Ob sie nun rebellierten oder nicht, sie repräsentierten ein Netz von Praktiken, Glaubensvorstellungen und Werten, die auf die eine oder andere Art zerstört wurden. Das ist es, was ich deutlich machen wollte. Natürlich ist das der Anfang. Ich schrieb das Buch in der Hoffnung, dass andere die Arbeit fortsetzen. Es gibt noch viel mehr zu entdecken als das, was im Buch auftaucht. Das Buch bietet aber einige allgemeine Orientierungslinien, z.B. zur Beziehung von Hexenverfolgungen und Einhegungen. Das Thema Land ist sehr wichtig. Vielleicht kommen wir später darauf zurück. Ebenso die Beziehung zwischen Hexenverfolgungen und der Reorganisation des Familienlebens und der sexuellen Beziehungen.
Oft ist die Hexe eine Prostituierte oder war in ihrer Jugend eine, oder sie hatte Kinder außerhalb der Ehe, oder eine sexuelle Beziehung außerhalb ihrer Klasse. Viele Frauen, die Beziehungen mit Männern der Oberschicht hatten, wurden der Hexerei angeklagt.
Natürlich wurden Abtreibungen, Kindsmorde, Verhütung, alle diese Praktiken sofort dämonisiert, wurden sofort als Praktiken bezeichnet, die dämonisch sind und darauf ausgelegt, das Leben von Kindern zerstören usw.. Dies ist, was das Kapitel über die Hexenverfolgungen zeigen will. Wie jede wichtige Initiative des Staates gegen eine große Gruppe von Menschen konnte die Hexenverfolgung auf verschiedene Arten genutzt werden. Ich ziehe oft die Parallele zum heutigen Krieg gegen den Terror. Der Krieg gegen den Terror kann heute eingesetzt werden, um eine Vielzahl von Menschen anzugreifen, z.B. Gewerkschaftler_innen, Aktivist_innen. Wir haben das kürzlich in den Vereinigten Staaten erlebt, wie der Krieg gegen den Terror zur Disziplinierung eingesetzt wird, gegen sehr friedliche Bewegungen, die trotzdem eine gewisse Bedrohung für die Politik des Staates und des Kapital darstellen.

Ralf Ruckus: Du hast schon erwähnt, wo die Hexenverfolgungen stattfanden. Du machst das ja im Buch: Kannst du sagen, wie viele Menschen betroffen waren? Alle Frauen waren in gewisser Weise betroffen, aber wie viele wurden angeklagt? Wichtiger noch sind die Fragen: Wie wurden sie zu Hexen gemacht? Und wer machte eine Frau zur Hexe?

Silvia Federici: Es hat eine große Debatte über das Ausmaß der Hexenverfolgung gegeben. Leider werden wir diese Frage nie auflösen können, weil so viele Archive in den zwei Weltkriegen zerstört wurden. Deswegen sind vor allem in Deutschland viele Quellen verloren gegangen, aber nicht nur dort. Zudem gibt es viel Archivmaterial, das noch gar nicht ausgewertet worden ist. Das ist kapillare Arbeit, die über Kirchen, kleine Dörfer usw. gemacht werden muss. Diese Arbeit ist noch in keiner Weise abgeschlossen. Trotzdem würde ich angesichts der mir bekannten Positionen und Dokumente schätzen, dass wir es mit etwa 300.000 Frauen zu tun haben, im Zeitraum von einigen Jahrhunderten.
Es gibt wilde Zahlen, die oft zitiert werden, von mehreren Millionen. Ich halte das nicht für möglich. Es gibt keine Belege dafür. Die Zahl von einigen Hunderttausenden ist plausibler. Das andere Extrem sind Ausmaße von 6.000 bis 7.000, die durch bloßes Zählen einiger wichtiger Verfahren zusammenkommen, die stattgefunden haben. Bei vielen Verfahren gegen eine Hexe oder eine Gruppe von Frauen wurde berichtet, dass mehrere Frauen getötet wurden. Mehrere Frauen wurden verbrannt, exekutiert, ohne dass ihre Anzahl genannt wurde. Soviel zum Ausmaß.
Wie wurde jemand zur Hexe gemacht? Die Schaffung einer Hexe konnte auf unterschiedliche Weise geschehen. Es gibt eine Menge über die Veränderung zu sagen, die die Organisation der Hexenverfolgungen im Laufe von zweieinhalb oder drei Jahrhunderten erfuhr, bis diese ihren Höhepunkt erreichten. Interessanterweise richteten sich die Vorwürfe anfangs immer gegen eine Organisation, gegen ein Kollektiv.
Mit der Zeit wurden immer mehr Individuen beschuldigt. Das zeigt die wachsende Atomisierung der Beziehungen, die Individualisierung der sozialen Verhältnisse. Im klassischen Fall einer als Hexe bezeichneten Frau ist diese alt, ihre Versorgung hängt von Nachbarn ab, denen es besser geht und die sich versorgen können. Sie bettelt. Viele Hexen, vor allem in England, aber nicht nur dort, waren Bettlerinnen. Es waren ältere Frauen, und dass sie betteln mussten, um sich zu versorgen, dass sie von Haus zu Haus ziehen und nach etwas Wein, Milch oder Brot fragen mussten, zeigt schon, dass vorher viel passiert war. Im Mittelalter gab es diese Situation nicht. Im Mittelalter wurden den Älteren Lebensmittel zur Verfügung gestellt. Alte Menschen lebten nicht alleine. Normalerweise gab es eine Weitergabe in der Gemeinschaft der Dienerschaft oder Bauern, die in Abhängigkeit vom feudalen Adeligen arbeiteten. Alle Menschen wurden versorgt, wenn die jüngere Generation das Haus und die Bebauung des Landes übernahm. Dass diese Frauen alleine waren und bettelten, deutet genau auf eine Gesellschaft, die den Prozess der Einhegungen schon durchlaufen hat.
Also betteln sie und werden oft abgewiesen. Mit dem Kapitalismus entsteht eine neue Ideologie, die die Idee der Wohltätigkeit herabsetzt. Sie verfluchen dann, und nach dem Verfluchen werden sie beschuldigt, den Tod oder die Krankheit eines Kindes herbeigeführt zu haben, oder wenigstens die Krankheit eines Tieres usw.. Oder sie werden für Stürme verantwortlich gemacht, z.B. Stürme, die die Ernte der Gemeinschaft zerstörten. Bestimmten Frauen wird dann vorgeworfen, den Sturm verursacht zu haben. Wenn man sich die Formen der Hexenverfolgung anschaut, fallen einige Dinge besonders auf. Erstens fällt auf, dass der erste Akt der Hexenverfolgung von oben kommt. Anders gesagt, sie kommen mit einer Gesetzgebung, die dann in die Dörfer und Städte gebracht wird. Sie wird vom Priester, von der Kirche vertreten, mit anderen Worten, sie wird als Ideologie und Angst von oben propagiert. Sie wird so propagiert, dass kein Zweifel besteht, dass du entweder kollaborierst oder selbst ins Netz der Beschuldigungen gerätst. Zweitens, wenn du die Ereignisse anschaust, erkennst du, dass die Hexenverfolgungen in einem Umfeld geschehen, das bereits eine große wirtschaftliche Umgestaltung erfahren hat. Es gibt bereits eine Polarisierung, indem die Distanz zwischen den Menschen viel größer geworden ist, als sie je zu Zeiten der feudalen Gemeinschaften war.
Es gibt bereits eine Bevölkerung, die landlos ist oder keine Subsistenzmittel hat. In der feudalen Gesellschaft war das sehr ungewöhnlich. Die Schaffung der Hexe hat also mit verschiedenen Aspekten zu tun. Auch die Schriften zur Dämonenlehre nehmen immer mehr zu und erzeugen nun die Figur der Hexe. Das ist sehr interessant. Sie sagen nun: Du musst dich vor diesen Leuten in Acht nehmen. Diese Leute verdienen keinerlei Hilfe, diese Leute sind gefährlich. Sie schaffen zunehmend eine Massenpsychose, mindestens in bestimmten Teilen der Bevölkerung, indem sie diese warnen, dass den Opfern der neuen Transformation der ökonomischen Verhältnisse nicht geholfen werden sollte und dass diese sogar gefährlich sein könnten. Dies ist das Umfeld, in dem sich die Anklagen der Hexerei ausbreiten.

Ralf Ruckus: Du brachtest das Buch 2004 heraus. Was ist nachher passiert? Wurde es in der feministischen Szene diskutiert?

Silvia Federici: Das Buch hatte einen gewissen Einfluss auf die feministische Szene und nicht nur auf die. Es ist sehr gut aufgenommen worden, was meiner Meinung nach damit zusammenhängt, dass es eine bestimmte historische Leerstelle ausfüllte, die für das Verständnis der ersten Phase kapitalistischer Entwicklung entscheidend ist. So hat es die Hexenverfolgungen für verschiedene soziale Bewegungen wieder in den Mittelpunkt des Interesses gerückt – besonders weil wir eine Rückkehr der Hexenverfolgung erleben. Das ist ein wichtiger Faktor, auf den wir uns konzentrieren müssen.
In den letzten drei Jahrzehnten hat es im Zusammenhang mit der Globalisierung in vielen Teilen der Welt, vor allem in Afrika, aber auch in Indien und Nepal, eine Wiederkehr der Beschuldigungen der Hexerei und auch der gewalttätigen Angriffe auf Frauen gegeben. Viele wurden getötet. Allein in Afrika sollen mindestens 20.000 bis 30.000 Frauen getötet worden sein, z.B. in Südafrika, Tansania, Ghana und vielen anderen Ländern. Viele Frauen wurden aus ihren Dörfern vertrieben, im Norden von Ghana, in Sambia, in Nigeria. Im Norden von Ghana gibt es Lager für Hexen, in die die aus ihren Gemeinschaften vertriebenen Frauen ziehen müssen. Sie leben dort unter miserablen Bedingungen, mit etwas Geld von NGOs und unter der Aufsicht lokaler Stammesführer.
Diese Frage ist auf einiges Interesse gestoßen, aber nicht in dem Maße, wie ich das erwartet habe. Die meisten, die dieses Phänomen untersuchen, sind vom Fachgebiet her Ethnolog_innen. Sie interessieren sich nicht so sehr für die Angriffe auf Frauen, als vielmehr dafür, wie das Okkulte in die politischen Diskurse Afrikas zurückgekehrt ist. Da sind z.B. Autor_innen wie [Jean and John] Comaroff, zwei durchaus bekannte Ethnolog_innen. Sie haben eine Reihe von Büchern geschrieben in denen sie untersuchen, warum Politiker in Afrika heute behaupten, magische Kräfte zu haben.
Das ist ein ganz anderes Thema als dieser besondere Angriff auf Frauen. Der erinnert ganz direkt an die Hexenverfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert. Auch heute handelt es sich um ältere Frauen, die arm sind und vor allem in ländlichen Gegenden wohnen. Sie werden wieder beschuldigt, den Tod von Verwandten oder Leuten aus der Gemeinschaft durch böse Praktiken herbeigeführt zu haben.
Meine Arbeit zu den Hexenverfolgungen im 16. und 17. Jahrhundert ist sehr wichtig, weil sie mich bei der Analyse dieser neuen Hexenverfolgungen gleich auf den Zusammenhang mit der Transformation der wirtschaftlichen Verhältnisse gestoßen hat, die heute in Afrika und anderen Teilen der Welt vor sich geht. Es gibt massive Angriffe auf die Subsistenzmittel, Landenteignungen, Landraub. Die Auswirkungen dieser Entwicklungen auf das Verhältnis von Männern und Frauen, der zunehmende Ausschluss von Frauen von gemeinschaftlichem Eigentum, das Interesse lokaler Stammesführer und Behörden – mit Beteiligung ausländischer Firmen – die kommunalen Strukturen des Landes zu zerstören und die Menschen dort zu vertreiben, all das steht klar und deutlich hinter diesen neuen Hexenverfolgungen.
Ich möchte noch ein wichtiges Element hinzufügen: Hier spielt auch die Kampagne internationaler Institutionen eine Rolle gegen Formen der Subsistenz, die von Frauen getragen werden und die diese gegen die Strukturanpassungen verteidigen, z.B. als Reaktion auf Strukturanpassungen, die ganze Gemeinschaften auseinandergerissen haben. Viele Frauen haben Land besetzt, sogar in Städten, und haben begonnen, einige Nahrungsmittel zu produzieren und Subsistenzformen des Handels, der Nahrungsmittelproduktion usw. zu schaffen, die der Gemeinschaft ermöglichen, sich selbst zu versorgen. Sie werden jetzt stark angegriffen, von der Weltbank und allen möglichen Institutionen, die behaupten, dass genau diese Aktivitäten der Grund für die Armut der Welt wären, und dass die Frauen und Gemeinschaften Geld und Kapital brauchten, wie über die Grameen Bank, Mikrokredite usw.. Ich habe eine Reihe von Artikeln darüber geschrieben. Ich habe versucht, einiges von der Methodik anzuwenden, die ich zum Verständnis der Hexenverfolgungen in der Vergangenheit benutzt hatte, um nun die in der Gegenwart zu verstehen. Ich sehe sie als Folgen der Globalisierung, nicht als kulturelle Ereignisse.

Ralf Ruckus: Abgesehen von diesen neuen Angriffen und Hexenverfolgungen, wie würdest du die Auswirkungen der Hexenverfolgungen beschreiben, dieser historischen Niederlage, ihre heutigen Auswirkungen auf Frauen im Allgemeinen?

Silvia Federici: Das ist eine sehr interessante Frage. Meiner Meinung nach haben die Hexenverfolgungen nie aufgehört. Auch wenn das übertrieben klingen mag. Heute findet die Hexenverfolgung gegen Frauen auf viele Arten statt. Zunächst mal wird das Bild der Hexe weiter als Disziplinierungsinstrument gegen Frauen eingesetzt. Am Ende von “Caliban und die Hexe” habe ich einige starke Bilder, die zeigen, dass die weiblichen Kommunarden, die sogenannten “pétroleuses”, als Hexen porträtiert wurden. Wenn also in der kapitalistischen Vorstellungswelt die Frauen angegriffen werden müssen, wird sofort auf das Bild der Hexe zurückgegriffen. Diese bestialische Kreatur, nur Sex und Lust, rein körperliche Substanz, ohne Verstand, bereit sich mit dem Teufel zu verbinden, so böse, irrational böse.
Dieses Bild gibt es. Über die Jahre schaute ich mir die Hollywood-Produktionen der 40er, 50er und 60er an und begriff mit der Zeit, dass das Bild der Hexe immer im Hintergrund stand. In so vielen Filmen. Wenn wir von der Hexe sprechen, muss sie nicht auf einem Besen oder auf einer Ziege gezeigt werden, es geht vielmehr um das Bild der vollkommen bösen Frau, die ohne erkennbare Gründe alle oder bestimmte Männer vernichten will. Bis heute zieht sich das als Thema z. B. durch viele Hollywood-Produktionen. Frauen wie in “Fatal Attraction”, der Angriff auf eine Frau, der es nur um ihre Karriere geht und die ihre mütterlichen Pflichten vernachlässigt. Die mit diesem Thema verbundene Figur der Hexe ist zurückgekehrt. Es ist interessant, wie anders z.B. Harry Potter gesehen wird, der ein guter Junge ist und seine Magie auf gute Weise einsetzt. Dann gibt es da z.B. die böse Hexe Narnia, wie sie Filme beschreiben und Kindern gezeigt wird. Sie ist wieder die ganz und gar böse weibliche Figur.
In diesem Sinn haben die Hexenverfolgungen ideologisch nie aufgehört. Die Hexe ist immer noch ein sehr mächtiges Bild, eine Ideologie. Es gibt auch noch eine andere Hexenverfolgung. In den USA findet ein Angriff auf Frauen statt, mit dem der Staat die Kontrolle zurückgewinnen will, die Kontrolle der Männer über ihren Körper, ihre Arbeit.
Das nimmt insbesondere in Zeiten der globalen Krise zu, in denen von Frauen erwartet wird, dass sie nach Hause gehen und eine Menge unbezahlter Arbeit machen. Es gibt zum Beispiel in den USA ein neues Gesetz, das Frauen kontrollieren und bestrafen will für alles, was sie während einer Schwangerschaft machen. Frauen werden hier als Maschinen für die Produktion von Arbeitskraft gesehen. Es gibt Frauen in den USA, denen heimtückischer Mord vorgeworfen wurde, weil sie während der Schwangerschaft Drogen genommen hatten. Jetzt musst du also Angst haben, wenn du Wein trinkst oder Drogen nimmst, weil du wegen versuchtem Mord an dem Kind in deinem Bauch angeklagt werden kannst. Ähnliche Gesetze werden in vielen Staaten diskutiert. Besonders mit der Eskalation der globalen Krise gehen die Hexenverfolgungen und der Krieg gegen Frauen weiter.

Ralf Ruckus: Lass uns aus anderer Perspektive drauf schauen. Ich denke, das ist wichtig. Wenn wir uns die letzten Jahrzehnte anschauen, gab es eine starke Frauenbewegung, die Erfolge hatte, die wir heute noch sehen können, auch wenn es einen Backlash gegeben hat. Es gibt auch ein positives Bild der Hexe in der feministischen Bewegung...

Silvia Federici: Durchaus. Was ich beschrieben habe, ist genau eine Reaktion auf die Bewegung. Es war die Frauenbewegung, die das Interesse an den Hexen wieder geweckt hat und die Figur der Hexe neu bewertet. Ob das nun historisch fundiert ist oder nicht, die Hexe ist sicherlich ein Art Image, ein Symbol für die rebellische Frau geworden. Die Frauenbewegung hat das übernommen. In Rom formten z.B. italienische Feministinnen einmal im Rahmen einer großen Demonstration einen magischen Zirkel und sangen: “Tremate, tremate, le streghe son tornate!”, “Zittert, zittert, die Hexen sind zurückgekehrt!” Die Identifikation mit den Hexen ist stark und hat viele Bücher hervorgebracht, nicht zuletzt meins. Die Politisierung der Frage der Hexenverfolgung kam daher, dass sie vorher vollständig nicht nur aus der Geschichte gestrichen, sondern auch entpolitisiert und lächerlich gemacht wurden – in grotesker Weise lächerlich gemacht wurden. In den USA gehen die Kinder an Halloween herum und spielen “Süßes oder Saures!” Ein Genozid mit dem Mord und der schrecklichen Folter von hunderttausenden Frauen und der Verwüstung ganzer Gemeinschaften wird auf ein kleines Spiel reduziert, das die Kinder spielen. Diese kleinen Mädchen setzen den Hut der Hexen auf, den diese in vielen Fällen tragen mussten, bevor sie verbrannt wurden. Sie stellen sie zur Schau, ohne zu wissen, dass viele Frauen so einen schrecklichen Tod starben. Es war sehr wichtig für die Frauenbewegung, das Schweigen zu brechen und dies wieder ans Tageslicht zu bringen und zu politisieren.

Ralf Ruckus: Ich frage nach dem positiven Bild, weil ich das für wichtig halte, wenn wir über “Hexen” sprechen. Hier gibt es z.B. jedes Jahr eine Walpurgisnacht als Frauendemonstration, in der sich positiv auf das Bild der Hexe bezogen wird. Alle Neudefinitionen, die du erwähnst über Sexualität usw., tauchen dort auf. Ob das gerechtfertigt ist oder nicht, das ist genau meine Frage an dich. Die Freiheit der Frauen, in allen Lebensbereichen selbst entscheiden zu können, was sie machen wollen, dafür steht die Hexe. Was denkst du darüber?

Silvia Federici: Ich unterscheide das Geschichtliche und das Politische oder das unterschiedliche Verständnis vom Politischen. Ich bin bereit, den Einsatz des Bildes von der Hexe in dieser Weise zu nutzen. Gleichzeitig kann ich die Form, wie die Hexenverfolgung und die Hexen in Teilen der Frauenbewegung verstanden werden, mit meiner Forschung nicht unterstützen, z.B. die Vorstellung, dass die Hexen in Europa eine Art alternative Religion darstellten, dass sie eine Sekte von Frauen waren, aus alter Zeit, mit Fruchtbarkeitsritualen. Das ist eine Theorie, die in den 20er Jahren von einem britischen Ethnologen begründet wurde. Diese Ansicht kann ich nicht [unterstützen]. Hexen waren in vielen Fällen Proletarierinnen – ich nenne sie proletarisch im weiten Sinne: arm, aus der Unterklasse, ländliche oder städtische Frauen.
Sicherlich trugen sie alte Praktiken und Existenzformen einer vorkapitalistischen Sozialität. Z.B. führten die Frauen im ganzen Mittelalter in den städtischen und ländlichen Gemeinschaften in Europa die meisten Arbeiten gemeinsam aus. Wenn sie wuschen, taten sie das gemeinsam, wenn sie ernteten, dann gemeinsam. Es gab also ein intensives gemeinschaftliches Leben. Dieses gemeinschaftliche Leben war natürlich auch eine Quelle der Macht. Das wird durch die Hexenverfolgung zerstört. Dass die Frauen eine besondere Gruppe mit einer besonderen Kultur waren, und dass diese Frauen eine Art feministischen Bewusstseins hatten, dafür habe ich keine Belege finden können.

Ralf Ruckus: Es scheint, als würde das auch eine besondere weibliche Spiritualität wie die der Mutterschaft beinhalten...

Silvia Federici: Ja, genau, das auch. Ganz verschiedene Frauen wurden der Hexerei be- schuldigt. Sie waren bäuerliche Frauen, die für Land kämpften, und sie waren Frauen, die tatsächlich Heilung praktizierten. Sie gingen von Haus zu Haus und markierten diese. Sie vertraten nicht notwendigerweise eine spezielle Form der Spiritualität. Eine meiner Tanten, nein, meiner weiblichen Vorfahren in Italien, von der mir meine Mutter erzählte, lebte sogar noch im 19. Jahrhundert von der Markierung von Tieren. Mit anderen Worten, sie machte bestimmte Zeichen und sprach bestimmte Worte. Drei Jahrhunderte vorher wäre sie wahrscheinlich als Hexe verbrannt worden. Die Heilung von Tieren und Menschen war ein Beruf vieler Frauen, und sicherlich eine Quelle der Macht, durch die Vorhersage der Zukunft. Andere Frauen wurden wegen ihrer Sexualität beschuldigt, weil sie illegitime Beziehungen hatten, weil sie außerhalb der Ehe Kinder hatten, usw.. Es gab also eine Vielzahl verschiedener Frauenfiguren. Dass die Verfolgungen den Angriff auf eine bestimmte Form der Spiritualität darstellten, dafür gibt es bisher keine historischen Beweise.

Ralf Ruckus: Die letzte Frage von mir. Hast du Vorschläge, wie diese Debatten neu aufgenommen und miteinander verbunden werden können? Du hast in deinem Vortrag schon Hinweise gegeben. Wie lässt sich dieses Buch und sein Inhalt mit heutigen Diskussionen verbinden? Hast du irgendwelche Vorschläge?

Silvia Federici: Mein Vorschlag wäre, und ich fände gut, wenn das Buch nach seinem Erscheinen ein neuer Anfang für die Erforschung und Analyse der Hexenverfolgung wird. Ich hoffe, dass das Buch ein Anfang sein wird, dass jemand dieses Buch nimmt, es liest und eine neue Arbeit beginnt. Dann könnte ein anderes “Caliban und die Hexe” herauskommen, in zehn Jahren oder so. Ich denke nämlich, dass es noch viele Fragen gibt, die untersucht werden sollten. Ich selbst würde [es gerne tun].
Es gibt jetzt so viel Arbeit zu tun, dass ich ständig hin und her gerissen bin zwischen dem Wunsch, diese Arbeit fortzuführen – was ich versuche, so gut ich es kann, besonders in Bezug auf die Gegenwart – und weiterzumachen mit dem, was heute besonders in den neuen Kämpfen passiert. Zum Beispiel bin ich sehr interessiert, das Thema der Einhegungen weiter zu entwickeln. Auf welche besondere Weise die Hexenverfolgung mit den Einhegungen zusammenhängt, den Einhegungen von Land und von Waldgebieten. Das ist ein Teil davon, aber es ist ein wichtiger Teil. Hier liegt sicher auch eine direkte Verbindung zu dem, was heute passiert mit den neuen Hexenverfolgungen im Zusammenhang mit massivem Landraub. Heute wird allgemein angenommen, und sogar jeder Journalist erkennt das an, dass in den beiden wichtigsten Orten der neuen Hexenverfolgungen, in Afrika und in Indien die Frage des Landes die entscheidende, die Schlüsselverbindung ist. Natürlich geht es auch um die Geschlechterverhältnisse, die geschlechtliche Hierarchie, warum ginge es sonst um Frauen?
Die Frage nach Hierarchien und die nach einem bestimmten Konzept von Weiblichkeit spielen offensichtlich auch eine Rolle. Einhegungen und Landraub bilden jedoch einen entscheidenden Rahmen. Ich persönlich hoffe, dass jemand in diese Richtung weitermachen wird. Ich habe einige Arbeit gemacht und z.B. versucht zu zeigen, dass man vor allem mit Blick auf die Anklagen in der ersten Phase der Hexenverfolgung in Europa, die Anklagen im Zusammenhang mit Tieren, dass die Hexen Tieren verletzen oder der Ernte durch Stürme schaden, das lässt sich fast neu zusammensetzen, wie ein Puzzle. Du kannst alle Teile zusammensetzen und erkennst eine Bevölkerung, deren einer Teil enteignet wird und sein Land verliert, und der andere Teil sind die Enteigner.
Ich hoffe, dass diese Art der Analyse als Folge dieser neuen Veröffentlichung aufgenommen wird. Es geht natürlich in jedem Fall auch um die Verbindung zur Gegenwart, weil uns meiner Meinung nach die Hexenverfolgung immer noch begleitet. Eine Sache habe ich durch die Beschäftigung mit Geschichte gelernt: Diese großen Ereignisse, und besonders diese großen Ungerechtigkeiten, diese großen Verbrechen, die der Kapitalismus begangen hat, gehören nicht zur Vergangenheit. Sie können nicht archiviert werden.
Wir müssen sie für immer im Blick behalten. Sie bieten eine Struktur für den Horizont, für ein gewisses Verständnis davon, was kapitalistische Gesellschaft ist und was kapitalistische Verhältnisse sind.
Vielen Dank!


Dieses Interview mit Silvia Federici wurde 2012 verfasst, anlässlich der Publikation von ihrem Buch Caliban und die Hexe in deutscher Übersetzung.

Das ursprüngliche Interview ist verfügbar unter: http://de.labournet.tv/video/6381/caliban-und-die-hexe

Wir bedanken uns für die freundliche Erlaubnis der Zweitveröffentlichung bei ill-will-editions

Foto: Albrecht Dürer - Die Hexe